Europa und die Billion-Dollar-Chance: Warum Deep Tech jetzt über sich hinauswachsen muss

Kürzlich hat McKinsey eine neue Studie veröffentlicht, die in der europäischen Venture-Capital-Szene für einiges Aufsehen sorgt. Der Titel: „Deep Tech – Europas Billion-Dollar-Chance“. Die Analysten rechnen darin vor, dass Europa bis 2030 ein wirtschaftliches Potenzial von bis zu einer Billion US-Dollar heben könnte, vorausgesetzt, der Kontinent gelingt es, Deep-Tech-Innovationen systematisch zu fördern. Gemeint sind Technologien wie Künstliche Intelligenz, Quantentechnologie, Robotik, neue Materialien, Halbleiter oder nachhaltige Energielösungen.

McKinsey spricht von einem echten „Momentum-Moment“ für Europa. Mehr als 6.000 Deep-Tech-Startups sind heute aktiv, doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren. Während klassische Software-Startups oft auf rasche Skalierung und leichte Reproduzierbarkeit setzen, zeigen Deep-Tech-Unternehmen laut der Studie ein anderes Profil: höhere Patentdichte, tiefere technologische Schutzgräben, robustere Margen und längere Produktlebenszyklen. Überraschend ist auch eine Kennzahl: Deep-Tech-Firmen erreichen den Unicorn-Status im Schnitt zwei Jahre früher als Software-Startups.

Trotz dieser vielversprechenden Dynamik lässt Europa jedoch nach wie vor enormes Potenzial liegen. Aktuell fliessen nur rund 15 Prozent der globalen Deep-Tech-Investitionen nach Europa und diese konzentrieren sich stark auf einige wenige Hotspots wie München, Paris, Zürich und Stockholm. Die Studie zeigt klar: Dem Kontinent fehlt es vor allem in den späten Finanzierungsrunden, an Industrialisierungskompetenz und an einer kohärenten Förderlandschaft. Die Fragmentierung der Programme und der Mangel an grossen, risikofähigen Fonds bremsen die Skalierung vielversprechender Technologien.

Zwar verfügt Europa über eine beeindruckende Forschungsbasis mit weltweit führenden Universitäten wie ETH Zürich, EPFL, TUM oder Cambridge. Was jedoch häufig fehlt, ist der entscheidende Schritt vom Labor in die industrielle Anwendung. Genau diesen „Lab-to-Market Gap“ benennt McKinsey als zentrale Herausforderung.

Der Report schlägt vor, eine europäische „Deep Tech Engine“ aufzubauen: ein integriertes Netzwerk aus Kapital, Talenten, Produktionskapazitäten und Industriepartnerschaften. Venture Capital spielt darin eine wichtige Rolle, nicht nur als Finanzierer, sondern als Schlüsselakteur beim Übergang von Forschung zur Skalierung. Besonders wichtig sei die Fähigkeit, langfristiges Kapital bereitzustellen und Unternehmen auch in kapitalintensiven Phasen der Hardware-, Energie- oder Infrastrukturentwicklung zu unterstützen.

Aus meiner Sicht ist das Billionenpotenzial durchaus realistisch, allerdings nicht als kurzfristiges Wachstumsversprechen. Deep Tech funktioniert nicht im Zwei-Jahres-Takt. Wer über Quantencomputing, neuartige Halbleiterarchitekturen, Energiespeicherung, Robotikplattformen oder synthetische Biologie spricht, bewegt sich in Dekaden-Zyklen. Die grossen Wertschöpfungssprünge entstehen erst, wenn Forschung, Produktion und Regulierung zusammenfinden. Und sie entstehen nur, wenn ausreichend grosses, langfristiges und risikotragendes Kapital verfügbar ist.

Ein weiterer Punkt, den McKinsey richtig trifft, ist die Bedeutung von Industriepartnerschaften. Deep-Tech-Startups entfalten ihr volles Potenzial erst dann, wenn sie mit etablierten Konzernen zusammenarbeiten, von Unternehmen wie Bosch, ABB, Siemens, Roche oder Nestlé. Hier liegt tatsächlich eine europäische Stärke: Der Kontinent verfügt über eine dichte industrielle Basis und ausgeprägtes technisches Know-how. In der Schweiz etwa ist die Verzahnung von Forschung, Industrie und angewandter Innovation traditionell besonders stark.

Was also fehlt? Im Wesentlichen drei Dinge: mehr Kapital, mehr Geduld und mehr Koordination. Europa hat die Talente, die Forschung und die Technologien. Die Frage ist: Entwickeln wir auch den langen Atem, der nötig ist, um Deep Tech gross zu machen und global gegen die USA und China zu bestehen?

Wenn Europa diese Grundvoraussetzungen erfüllt, kann Deep Tech tatsächlich die nächste große Wachstumswelle werden, die erste nach der Software-Ära. Und möglicherweise die prägendste für die kommenden Jahrzehnte.

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